Bremen

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PANORAMA Nr. 631   vom 11.9.2003

Protokoll eines vermeidbaren Mordes

Anmoderation

Anja Reschke:

Es gibt sozusagen einen stillschweigenden Vertrag zwischen dem Staat und seinen Bürgern. Der Staat hat die Verpflichtung, die Bürger zu beschützen, ihr Leben, ihr Hab und Gut. Dafür verzichten wir auf Selbstjustiz und schießen nicht jeden, der uns gefährlich werden könnte, einfach so über den Haufen. Wenn man sich aber mal die Ermittlungsmöglichkeiten der Behörden in Deutschland ansieht, muss man Zweifel haben, ob Polizei und Justiz diesen Vertrag überhaupt erfüllen können. In Bremen musste jetzt eine junge Frau sterben, weil die Behörden ein Verbrechen nicht erkennen und so auch nicht verhindern konnten.

Holger Baars mit der Chronik eines vermeidbaren Mordes, der überall in Deutschland geschehen könnte.

Kommentar:

Hier hat schon lange keiner mehr geschlafen, die Wohnung unbenutzt. Vor zwei Monaten wurde Carola Schmittke hier ermordet, in ihren eigenen vier Wänden. Die Eltern – zum ersten Mal in der Wohnung ihrer toten Tochter. Eine Plane liegt über dem Blutflecken am Boden, um den Eltern das Schlimmste zu ersparen. Dennoch – Schock und Trauer, Verzweiflung.

0-Ton

Irmgard Schmittke:

(Mutter des Opfers)

“Dieses Endgültige, dass sie nicht mehr kommt, nicht mehr anruft, nicht mehr kommt, nicht mehr lacht, nicht mehr weint.”

Kommentar:

Carola wurde nur 25 Jahre alt. Dann musste sie sterben. Doch Carolas Tod war vermeidbar. Sie wurde das Opfer von Behörden und Gesetzen.

Bremen-Neustadt. Vor sieben Jahren ist Carola aus Süddeutschland hierher gezogen. Bremen war immer ihre Traumstadt. Im vergangenen Sommer zieht sie in dieses Haus. Eine kleine Wohnung, 40 Quadratmeter, zwei Zimmer im dritten Stock. Was sie nicht weiß: Gegenüber wohnt eine psychisch kranke Frau, Susanne K., 40 Jahre alt. Ihre Biographie ist weitgehend unbekannt, es gibt keine Fotos. Feststeht: Susanne K. leidet unter Bewusstseinsstörungen und Wahnvorstellungen. Immer wieder Gewalttaten.

19. September 1998. Körperverletzung mit einem Messer. Das Opfer wird schwer verletzt. Eine Geldstrafe, mehr nicht. Die nächste Tat: am 6. Juli 2000. Bedrohung mit einem Messer. Susanne K. greift einen Imbissbudenbesitzer an. Das Verfahren wird eingestellt. Doch die Täterin wird eingewiesen in das Zentralkrankenhaus Ost, psychiatrische Abteilung. Schon nach einer Woche wird sie wieder entlassen. Danach die nächste Gewalttat, am 16. September 2000. Angriff auf die eigene Mutter. Susanne K. kommt wieder in die Psychiatrie, wieder nur für wenige Tage. Ein neuer Krankheitsschub am 29. Mai 2001. Ein Selbstmordversuch, vermutlich wieder mit einem Messer. Diesmal wird sie für zwei Monate eingewiesen. Danach wird Susanne K. betreut, vom Sozialdienst katholischer Frauen. Aber sie sticht wieder zu, am 5. September 2002. Gefährliche Körperverletzung mit einem Messer. Die Staatsanwaltschaft ermittelt – ohne Folgen.

Und so kommt es, dass Carola neun Monate später zum ersten Mal von ihrer Nachbarin bedroht wird, am 25. Juni 2003. Susanne K. überfällt Carola vor ihrer Wohnung, verletzt sie mit einem Messer. Carola kann entkommen, flüchtet zu ihrem Freund. Gemeinsam gehen sie zur Polizei. Hier ist die Täterin Susanne K. nicht unbekannt.

0-Ton

Stefan Dierksen:

(Freund des Opfers)

“Carola wusste den Namen nicht, sie war sehr durcheinander und auch am Weinen. Und da hat sie gesagt, das ist in der Hardenbergstraße 2, das ist eine Nachbarin von ihr. Und da waren die denn am Tippen, in ihrem Computer drinne, und sagten eben halt: Ist das diese Frau? Und da sagte Carola: Ja, das ist sie. In dem Augenblick sagte der Beamte: Ach, die schon wieder.”

Kommentar:

Die Beamten nehmen die Anzeige zwar auf, aber auf dem Computerauszug erscheint nur das Delikt Körperverletzung. Sonst nichts.

0-Ton

Markus Beyer:

(Polizeisprecher Bremen)

“Ich will auch gleich hinzufügen, was dieser Auszug nicht enthält. Das sind nämlich Informationen über psychosoziale Störungen, über Auffälligkeiten einer Person, die eben nicht ein Strafdelikt darstellen. Das sieht der Polizeibeamte, der einen Fall bearbeitet, ermittelt, auf seinem Computer nicht.”

Kommentar:

Und so unternehmen die Polizeibeamten nichts. Niemand erkennt, wie gefährlich Susanne K. ist. Niemand sieht, dass sie wieder in die Psychiatrie müsste. Sie bleibt unbehelligt draußen, schlimmer noch: Das Amtsgericht hebt auch noch die Betreuung für Susanne K. auf, weil es von all den Straftaten nichts weiß.

0-Ton

Henning Maul-Backer:

(Justizbehörde Bremen)

“Soweit ich das weiß, hat die Betreuerin selbst die Aufhebung der Betreuung beantragt, wahrscheinlich weil sie nach ihrer Einschätzung gesehen hat, dass die Betreuung nicht mehr weiterhilft.”

Kommentar:

Das wird einfach so hingenommen, weitere Maßnahmen werden nicht eingeleitet. Und so kann Susanne K. am Morgen des 11. Juli 2003 ihre Nachbarin Carola ermorden, mit 38 Messerstichen. Mit Brachialgewalt bricht sie die Tür auf. Carola Schmittke hat keine Chance.

0-Ton

Irmgard Schmittke:

(Mutter des Opfers)

“Da kommt so ein Schrank von Mensch da durch die Tür und sticht auf dich ein. Was Carola ausgehalten hat in den letzten Minuten ihres Lebens, da darf ich gar nicht dran denken.”

Kommentar:

Carola Schmittke – ihr Tod war vermeidbar. Doch schuldig fühlt sich keiner.

Bericht:    Holger Baars, Kirsten Hartje, Anja Reschke

Schnitt:    Anthony Thomps

Abmoderation

Anja Reschke:

Der Bürgermeister der Stadt Bremen, Henning Scherf, hat den Eltern von Carola einen Brief geschickt. Darin schreibt er: Warum? Musste es so kommen? Hätte man nicht? Ich will Ihnen sagen, ich habe auch keine Antworten, ich bin auch ratlos.

Die Eltern von Carola wollen jetzt Klage gegen die Bremer Behörden einreichen.


Wann und wo hat schon einmal ein Beamter Verantwortung übernommen?

Glauben Sie noch an Märchen?